Vorfahren aus dem Underground

Die Renaissance der Fotokünstlerin Annette Frick

In der Kunstwelt ist Annette Frick schon seit Jahrzehnten vor allem als Fotografin der queeren Subkultur bekannt. Allerdings war ihr Werk bislang eher etwas für Insider. Das ändert sich gerade. Aktuell sind ihre Porträts bei Contemporary Fine Arts in Basel und in der großen Vaginal-Davis-Ausstellung im Berliner Gropius Bau zu sehen. Ihre wunderbare Ausstellung bei ChertLüdde in Berlin endete soeben. Doch warum findet ihre Fotografie jetzt solche Resonanz?   

Vor ein paar Tagen haben wir Wilhelm Hein auf dem Alten St.-Matthäus-Friedhof in Berlin begraben. Er starb 85-jährig, war Filmemacher und -theoretiker, hat den Underground und experimentellen Film seit den Sixties entscheidend mitgeprägt. Und er war Annettes Mann. 40 Jahre waren die beiden zusammen. 

Annette und Wilhelms Freunde bemalten eine wunderschöne Sargdecke. Nach der Trauerfeier ging es hinaus in den sonnenbeschienenen Morgen. Wir liefen hinter dem Sarg her, entlang der verwahrlosten oder mit Putten, Steinen und Windrädern dekorierten Gräbern, hoch in Richtung der Grabstätte der Gebrüder Grimm. Nicht nur sie, sondern auch Chris Roberts oder Francoise Cactus von Stereo Total sind hier beerdigt - und die halbe queere Szene Berlins. 

Dies ist ein Gedenkort für eine Gegenkultur, deren Ikonen sämtlich den "Walk on the Wild Side" gemacht haben, wie auch der Titel von Annette Fricks Ausstellung bei der Galerie Contemporary Fine Arts (CFA) in Basel lautet. Viele von ihnen haben dafür einen jahrzehntelangen Outsider-Status in Kauf genommen: Leute wie die legendäre Künstlerin und Schauspielerin Tabea Blumenschein, die Annette fotografierte, oder der Straßenmusikant und Schauspieler Bruno S., der in "Stroszek", Werner Herzogs Meisterwerk über Liebe und soziale Kälte, neben Eva Mattes 1977 international bekannt wurde. Und trotzdem heute fast vergessen ist. 

Ein Ende und ein Anfang

Unten am Eingang gibt es noch das von Ichgola Androgyn im Andenken an die Tunten-Aktivistin Ovo Maltine gegründete Café Finovo. Auf dem Friedhof liegen so viele Menschen, die Annette Frick in den 1990ern kannte, sie und ihr Umfeld fotografierte: Aids-Aktivisten wie Napoleon Seyfarth oder der Fotograf Jürgen Baldiga, der Filmenthusiast und Pionier Manfred Salzgeber, der gehörlose Aktivist und Drag-Performer Gunther Trube.  

Vom Grab meiner ersten großen Liebe, Nikolaus Utermöhlen von der Künstlergruppe Die Tödliche Doris, kann man zu Wilhelm Hein rüber spucken. Ich komme immer öfter zu Beerdigungen hierher. Und sehe mich und andere Trauergäste aus meiner glorreichen 80s-Vergangenheit verschrumpeln, älter, klappriger, androgyner, mopsiger werden.  

Doch während wir da langtrotteten, fühlte ich auch Optimismus und Aufbruch, das Gefühl im Hier und Jetzt zu sein. Nicht nur, dass da natürlich auch neue, junge Leute kamen: Studenten von Wilhelm und Fans. Ich dachte an Annette, die hier auf dem Friedhof schon vor über 30 Jahren die Beerdigungen von Polit-Tunten fotografierte und jetzt selbst ihren Mann begraben muss, nachdem sie ein paar Tage zuvor die Ausstellung in Basel eröffnet hat. Alles passiert auf einmal. Dies ist ein Ende und ein Anfang. Das ist unsere Zeit. Wir sterben und leben gleichzeitig auf, in diesem globalen Horror, weil alles dringlicher wird, die großen und die kleinen Sachen. So wie damals, als viele der Menschen, die hier liegen, für 15 Minuten berühmt wurden, in Talkshows saßen, performten und ausstellten und gleichzeitig ins Prekäre abrutschten oder starben. Doch was lernen wir daraus?  

Leben und Tod, so nah beieinander 

Ich musste an den Ausspruch eines Mitschülers, damals im Englischunterricht denken. Nach der Lektüre eines sozialkritischen Romans, etwas von John Steinbeck vielleicht, in dem in einer dramatischen Szene die Mutter bei der Geburt verblutet, das Kind aber gerettet wird, fragte die Lehrerin, was wir denn daraus lernen könnten. Schweigen. Sie drängte weiter und fragte dann ausgerechnet diesen etwas schwerfälligen Jungen, der nur gebrochen Englisch sprach, nach einer Antwort. 

Der dachte nach und sagte dann pseudowichtig: "Life and death, so close together". Gelächter. Doch in dieser lakonischen, aus purer Hilflosigkeit geborenen Antwort steckt eine nüchterne Wahrheit, die ich auch in Anette Fricks Bildern sehe. Ihre Fotos aus der Berliner Tunten-, Aktivismus- und Club-Szene, die zwischen der Nachwendezeit und den frühen 2000er-Jahren entstanden und jetzt in Basel zu sehen sind, halten eine ebenso traumatische wie revolutionäre Ära fest, die gerade auch in der Gegenwartskunst als Thema aktuell wird; genau wie der neue, alte Faschismus oder die Klassenfrage. Es ist im etablierten Kunstbetrieb ein bisschen wie in der Mainstream-Schwulenkultur. Irgendwie tobt die Party um Status, Kohle und sexuelle Attraktion weiter. Aber eigentlich wissen alle, dass das vorbei ist, selbst wenn die Maschine noch funktioniert … Da helfen auch Kunstnebel und Special-K nichts.

Im Zeitalter von Prep und einer gigantischen Sex- und Unterhaltungsindustrie, ist der perfekte, "gesunde" Körper Kapital, Ware. Alle Aspekte von queerer und sonstiger Sexualität wurden vermarktet und mit Algorithmen und Social Media ausgeschlachtet. Und natürlich wurde da die Aids-Krise, die zwar in den frühen 2000ern aufgrund neuer Medikamente, der sogenannten "Dreier-Kombi", für besiegt erklärt war, aber global weiter tobt, gerne ausgeblendet. Auch die Vorstellung des perfekten "queeren" Lebens war unerbittlich an Erfolg, Fitness und Konsum geknüpft; nur mit etwas schwarzem Nagellack dran. Lange wollte man sich nicht erinnern. 

Das große Aids-Revival 

Doch das ändert sich seit einer Weile durch die Höllenfahrt, die der autoritäre Kapitalismus antritt. Alles passiert auf einmal. Während in jeder Streaming-Serie LGBTQI+-Charaktere rumhüpfen, auf Biennalen und in Museen noch munter dekolonialisiert wird, verwandeln sich Nationen in Festungen, die abschieben und deportieren, was das Zeug hält. Diversität und Inklusionsprogramme sind in den USA verboten, auch für ausländische Firmen. 

Der rechtliche Schutz und die Gesundheitsversorgung für Transpersonen sind abgeschafft, per Dekret wird festgelegt, dass es nur zwei Geschlechter gibt. In New York wird Act Up wieder aktiv, da die Trump-Regierung sämtliche Entwicklungshilfen eingestellt hat, auch die globalen Hilfsprogramme für Aids-Prävention und die Distribution von HIV-Medikamenten. Das UN-Programm UNAIDS befürchtet 6,3 Millionen zusätzliche Todesfälle, falls keine neuen Geldgeber gefunden werden. Durch die Versuche, den "Affordable Care Act" abzuschaffen und das Budget von Medicaid radikal zu kürzen, ist auch die Gesundheitsversorgung von HIV-Infizierten innerhalb der USA gefährdet. Life and death, so close together

Ähnliche Tendenzen zeigen sich mit dem Vormarsch der extremen Rechten in Europa. Giorgia Melonis ultrarechte Regierung ficht in Italien bereits die Geburtsurkunden aller Kinder an, die in Familien mit gleichgeschlechtlichen Eltern zur Welt kamen. Nur der leibliche Elternteil soll anerkannt bleiben, dem anderen wird der Status entzogen. Wenn der leibliche Elternteil stirbt, haben die Co-Eltern keine Rechte mehr. Das Kind kann eine Vormundschaft bekommen oder adoptiert werden. 

Wütende, schamlose, exzessive Polit-Tunten

Woke ist diffamiert, obwohl wir nie woke waren. Und irgendwie passt diese gefühlige, poetisch-politische Stimmung in der aktuellen Kunst, diese robotische, privilegierte Empathie nicht mehr. Da kommen Annettes unsentimentale, anti-betuliche Porträts von den süchtigen, wütenden, schamlosen, exzessiven Polit-Tunten der 1990er- und anbrechenden 2000er-Jahre gerade richtig. Die von ihr und Bruno Brunnet gemeinsam kuratierte Ausstellung in Basel führt in die Nachwendezeit, zurück in eine Ära, in der die Welt schon einmal auseinanderfiel und sich radikal wandelte. Nur, dass viele Leute damals dachten, der kalte Krieg sei vorbei, die Machblöcke abgeschafft, der Kapitalismus auf dem endgültigen Siegeszug. 

Chou-Chou de Briquette, Melitta Poppe, BeV Stroganov: Die Berliner Tunten, die Annette porträtiert, sind eng in die damalige Club-Szene eingebunden, nicht nur ins SchwuZ, sondern auch ins Kreuzberger SO36, das 1989 eröffnete 90 Grad oder das spätere WMF in Mitte. Sie treten in Kleinkunst-Shows auf, hosten, modeln, veranstalten. 

Zugleich hat ihr Trash-Appeal auch etwas mit Klasse zu tun. Viele der Personen auf Fricks Bildern leben an der Grenze zur Armut, hangeln sich von einem Job zum anderen, müssen ständig improvisieren. Die Zahl der Aufträge ist begrenzt, die Konkurrenz unglaublich groß, auch daher kommt es in diesem Kampf um Aufmerksamkeit zu ständigen Streitereien. 

Kleider aus Aldi-Tüten

Annette begleitet sie bei Auftritten in Berliner und ostdeutschen Clubs, fotografiert sie backstage, in Abbruchhäusern, bei ihren Shows und Aktionen. Oft entstehen intime Langzeitbetrachtungen. Auf den Bildern, die zu Beginn der 2000er bei den von Marc Spiegler und Susanne Sachse initiierten CHEAP-Klub-Nächten entstehen, hält Annette eine neue Generation und zugleich auch die Verbindung zu den Ahnen der Bewegung fest. Ein Ausschnitt davon ist noch bis zum Herbst in der grandiosen Ausstellung "Vaginal-Davis: Fabelhaftes Produkt" im Gropius Bau zu sehen.    

Doch für die Polit-Tunten in den 1990ern, die gegen Aids und Homophobie antreten, gibt es eine Agenda, für die es damals, zumindest im Mainstream, noch keine richtigen Begriffe gibt. Heute würde man sagen, es geht um Transrechte, die Durchsetzung von non-binären Identitäten und Lebenskonzepten. 

Zwar richten sich auch ihre Projektionen darauf, eine Diva zu sein, berühmt zu werden - aber sie revoltieren gegen die neoliberale Idee, dass die LGBTQ+- Community für die Mehrheit nur akzeptabel wird, wenn ihre Mitglieder bürgerliche Strukturen übernehmen, zur Armee gehen, konsumieren oder heiraten. Die improvisierten Performances, die extremen Looks, das Material (wie BeV StroganoVs legendäre Kleider aus Aldi-Tüten, die man in Basel sieht), sprechen eine andere Sprache. Sie machen klar, dass man von unten, von der Straße, aus einer noch resilienten Subkultur kommt.

Von den Institutionen belächelt

Die Tunten sehen sich sämtlich als Künstlerinnen, werden von den Institutionen aber eher belächelt. In der etablierten Kunstszene finden die Diskurse über Aids quasi im Saal, vor einem extrem gebildeten Publikum statt. Im Gegensatz dazu sind die Tunten als Aktivistinnen auf der Straße, im Krankenhaus, veranstalten Sexpartys, erreichen mit ihren Shows eine ganz anderes, viel diverseres Publikum aus ganz unterschiedlichen Schichten. 

Die Aufnahmen, die Annette 1991 auf der Berlinale von BeV, Ovo und andere Act-up-Aktivisten bei den Protesten gegen Marlboro, den Sponsor des Filmfestivals macht, zeigen, wie improvisiert diese Aktionen waren. In ihrer Praxis sind die Polit-Tunten viel aggressiver, chaotischer, uncooler, kitschiger, aktionistischer als etablierte "Künstler". Auch das vereint sie mit Annette – die Idee, sich "auszusetzen", nicht in abgesicherten Konventionen und Hierarchien Zuflucht zu suchen. Die Fotografin sieht sich nicht als professionelle Beobachterin, sondern als Gegenüber.

Mit einigen der Protagonistinnen auf ihren Bildern, wie Tima der Göttlichen, verbindet Annette eine lange Freundschaft. Dennoch verrät das Werk das nicht. Anders als Nan Goldin, die ihre intimen Beziehungen, ihre persönliche Nähe zu den Subjekten thematisiert, ihre eigene Verflechtung in die Situation auch formal deutlich macht, behält Annette eine gewisse Distanz. Sie muss immer eine Beziehung zu den Menschen entwickeln, die sie fotografiert, aber ihre künstlerische Haltung ist stets die gleiche, ganz egal, ob diese Beziehung einige Sekunden oder Jahrzehnte währt. Diese Distanz ist notwendig, um anwesend und wirklich offen für das Gegenüber und diesen Moment zu sein. Zugleich ist auch die Freude an Anarchie und Provokation das, was sie in der Kunst sucht. 

Stadt im Fummel 

Annette, die in Köln Fotografie studierte, war Besetzerin der Stollwerkfabrik und feministische Aktivistin. Mehr noch als durch die klassische Kunst ist ihr Werk (auch durch die Beziehung mit Wilhelm Hein) von experimentellen Underground-Filmen und -Performances geprägt. Zu den Einflüssen zählen sicher Jack Smiths Film "Flaming Creatures" (1962), Fluxus-Performances, Wiener Aktionismus, die Bilder von Diane Arbus, Warhols frühe Filme und seine Fotografie. Und natürlich der ganze queere Kanon des Nachkriegskinos, dessen Ikonen sie auch fotografiert, etwa Helmut Berger, Udo Kier, Holly Woodlawn und Joe Dallesandro. 

Annette Frick beginnt ihre Laufbahn in einer Zeit, als die deutsche Kunstfotografie sich gerade von der klassischen Arbeiterfotografie der 1970er-Jahre, von der sozial engagierten Dokumentation, ganz deutlich absetzt: mit subjektiven Sichtweisen, die der Autorenfotografie nahe sind, mit formalen, anti-erzählerischen Experimenten. Dabei sind für sie der Stadtraum, Stadtentwicklung, Geschichte zentral. 

In Basel sind auch ihre Architekturaufnahmen zu sehen. Annette porträtiert mitten in der Aids-Krise die queere Szene vor dem Hintergrund des Mauerfalls, der Perestrojka, den rechten Attacken im Osten. Während die Möglichkeiten der Hauptstadt als Kultur-, Kunst- und Club-Metropole unendlich erscheinen, werden immer mehr Viertel gentrifiziert, verschwinden zunehmend Freiräume. Es verblassen nicht nur Architekturen und Wahrzeichen des DDR-Sozialismus, sondern auch die Erinnerungen an Nazizeit, Krieg, Teilung

Es ist kein Zufall, dass Annette ihre Porträts dieser Zeit immer wieder mit den Fotos der eingerüsteten, verhängten Fassaden in Zusammenhang bringt, was natürlich Bezüge zum Drag oder der Maskerade hat, aber vor allem zum Symbol für das ideologische makeover steht, das herrschende Systeme nach historischen Umwälzungen vornehmen. Bestimmte, politisch belastete Bauten oder Wahrzeichen verschwinden, werden durch "moderne" Architekturen ersetzt, andere werden rekonstruiert oder nachempfunden wie etwa das Berliner Nikolaiviertel. Oder später "historisch" im disneyfizierten Stil nachgebaut wie die Fassade des Berliner Stadtschlosses, die das "moderne" Humboldt Forum umschließt. Außen die Beschwörung imperialer Herrschaft, von Preußens Glanz und Gloria, innen der Versuch einer Dekolonialisierung – auch eine Form von Drag. 

Schichten aus Zeit

Die große Kunst von Annette Frick ist, das Faktische, Materielle, das "wie es ist" fast archäologisch nüchtern und mit formaler Präzision festzuhalten – und dabei zu einem existenziellen, mitfühlenden Ereignis zu machen. Die Fotografien sind im wahrsten Sinne Zeitporträts. 

Sie halten, ähnlich wie ihre Architekturfotografie, Schichten aus Zeit fest. So ist das auch bei ihrer Filminstallation und den Arbeiten von "Cosmic Elements (or Secret Secretions)" (2002–2003), die gerade bei der Galerie ChertLüdde in Berlin zu sehen waren. Im Jahr 2002 beginnt Frick damit, Samen und Pflanzenproben zu sammeln und sie auf Fotogrammen festzuhalten. Dabei werden, wie in den Anfangstagen des Mediums bei Henry Fox Talbots Experimenten oder in den 1920er-Jahren bei Man Ray, Pflanzen, Versteinerungen, Alltagsgegenstände, alle möglichen Dinge direkt auf dem Fotopapier belichtet.  

Bei Annette ist es allerdings 16-Millimeter-Film, den sie wie ein Fotogramm bespielt; nicht nur mit Samenkapseln, Blüten- und Pflanzenteilen, sondern auch mit Wilhelms verspritztem Sperma. Das hat etwas Archaisches, Regressives, fast Schamanisches. Die Negativbilder des Filmstreifens, die sie auch als Fotografien vergrößert, wirken visionär; als würde man in Galaxien oder durch ein Mikroskop auf Zellgewebe oder winzige Organismen schauen. 

Mit dem arbeiten, was da ist

Die Gründe für diese Fotogramm-Technik sind aber auch das fehlende Geld für Material, eine pragmatische und programmatische Form der Einfachheit, der Anspruch, mit dem zu arbeiten, was da ist. Besonders in Annettes Frühwerk gehört das Prinzip des available light dazu. So zu sehen auf einem der - wie ich finde - besten Fotos, das im Januar 1994 auf Jürgen Baldigas Beerdigung auf dem Alten St.-Matthäus-Friedhof entsteht. An diesem nassen, grauen Wintertag steht Tima die Göttliche, geschminkt, mit Nerzmantel und Fellmütze, etwas abseits vom Grab, trauernd, wie die erschöpfte, resignierte Version von "Charlys Tante" –  diesen transvestitischen, lustigen, immer etwas spießigen, lächerlichen Figuren aus deutschen Nachkriegskomödien, mit denen latente Homosexualität überspielt wurde. 

Doch in dieser Performance, in der die Grenzen zwischen Kunst, Leben und Tod hauchdünn werden, wird aus der stereotypen Figur etwas völlig anderes –  etwas, das Mutter und Kind zugleich ist, etwas Verlassenes, das sich selbst bemuttern muss, eine Mutter, die ihr Kind verloren hat. Etwas, das sich an der Handtasche festhalten muss, weil nichts anderes da ist. Da steht eine performative Figur, und gleichzeitig ein Mensch, der nicht weiß, wie es weitergeht. Das ist ganz einfach und unglaublich schwer.

In Zeiten, in denen die AfD-Vorsitzende Alice Weidel sagt, sie sei nicht queer, "sondern mit einer Frau verheiratet, die ich seit 20 Jahren kenne", Ralf Schumacher sich mit seinem französischen Freund Etienne outen kann, der für die Bewegung Rassemblement National und Le Pen arbeitet, sollten sich all diese bürgerlichen Rechten mal dieses Bild ansehen. 

Zwei Homo-Hochzeiten und 6 Millionen Todesfälle

Diese Tunten sind eure Vorfahren, die für eure Rechte gekämpft haben. Ohne sie könnte Weidels Frau Sarah Bossard mit Wurzeln in Sri Lanka nicht Technopartys in Berlin, Austern zum Frühstück und den Hashtag #zurichpride auf Instagram posten, oder Schuhmacher mit seinem Herzensmenschen und Blumengirlande öffentlich in den Sonnenuntergang schippern. 

In Italien würden ihnen ihre Kinder von den Schwiegereltern weggenommen, wenn alles klappt. Im autokratischen Russland könnten sie verprügelt oder gelyncht werden, ohne dass die Täter verfolgt würden. In der völkischen Gesellschaft, die sie propagieren, gibt es nur einen Weg für sie, so zu leben, wie sie es jetzt tun: zur Elite zu gehören. Der Rest der Menschheit kann dann vegetieren und sterben wie in "The Handmaid's Tale", für nichts arbeiten, verhungern, im Lager umkommen, ohne Medikamente abkratzen. Die Polit-Tunten würden ihnen heute wahrscheinlich einen Haufen Müll anstatt der üblichen Reiskörner hinterherwerfen.     

Doch anstatt sich an ihnen ein Beispiel zu nehmen, hat man sie fast vergessen. Angesichts einer menschenverachtenden rechtsextremen Politik, die auf dem Vormarsch ist, einer Welt, in der wieder Menschen deportiert, bestraft und bekämpft werden müssen, damit sie die "gesunde" Volksgemeinschaft nicht "infizieren", setzten Anette Fricks Bilder ihnen zumindest ein längst fälliges Denkmal.