Augen leuchten, Tränen fließen. Glückselig, mit staunend offenen Mündern und gefüllten Popcorn-Eimern präsentiert ein Internet-Spot des Hauptverbandes Deutscher Filmtheater die Filmfans dort, wo sie immer noch hingehören: Sie sitzen im Kinosaal. Und bereits Mitte Mai, als die Wiedereröffnung der Kinos durchaus in den Sternen stand, lancierte der Verleih Filmwelt einen YouTube-Trailer, nicht für einen Film, sondern für das Kinoerlebnis schlechthin. Statt eines Zaubers wohnt dort dem Neuanfang ein (wohliger) Grusel inne: "ES wird wiederkommen" dröhnt im Clip eine markante Männerstimme. "Keiner weiß, wann – doch jeder weiß, wo". Gemeint sind ebenfalls die Filmtheater. Der Horror-Clip ist clever gemacht. Er soll Angstlust wecken – und wahre Befürchtungen ein wenig camouflieren, nämlich den Bammel der Kinobetreiber, ihre Säle nicht mehr voll zu kriegen.
Denn in Wahrheit ziehen die Verleiher und die Kinobetreiber immer weniger am selben Strang. Über Jahrzehnte galt ein exklusives (aber mündlich ausgehandeltes) Auswertungsfenster für die Theater, das den Produktionsfirmen immer mehr zum Dorn im Auge wurde. Inzwischen sind die Studios kaum noch bereit, ihre Filme bis zu vier Monate lang den Streamingplattformen, den TV-Sendern oder dem DVD-Markt vorzuenthalten. Das kostet Geld.
Ab 1. Juli ist es nun soweit, und die Kinos dürfen nach dem monatelangen Lockdown wieder öffnen. Angesichts von sieben bis 14 Filmstarts pro Woche (so das Vor-Corona-Niveau) dürfte das Angebot an Filmen, die jetzt in der Warteschleife stehen, riesig sein. Es bleibt abzuwarten, wie es mit der Nachfrage steht. Wie groß ist der allgemeine Hunger nach Kinoerlebnissen? Wie wirkt sich die monatelange Entwöhnung aus – und welche Rolle spielt das Surrogat der Streamingdienste dabei? Ist Streaming das bessere Kino? Werden die ollen Abspielorte denn noch gebraucht?
Es gibt gar keine Alternative zum Filmtheater
Hallo?! Es gibt gar keine Alternative zum Filmtheater. Wir haben uns zwar an die Kino-Ersatzdrogen gewöhnt: an Spielfilme im Fernsehen längst, ans Streaming spätestens zu Pandemie-Zeiten, weil es nun mal nicht anders ging. Doch im Kino zu sitzen bedeutet, den spezifischen Blick der Filmemacherinnen und Filmemacher auszuhalten, von der ersten bis zur letzten Minute. Film im Kino prägt uns auf eine Weise, wie es mit der Fernbedienung im Anschlag oder dem Schnelldurchlauf der Internet-Player einfach nicht funktioniert. Selbst die Pausentaste, die es erlaubt, mal eben aufs Klo oder zum Kühlschrank zu laufen, gefährdet die Filmdramaturgie.
Es wäre freilich naiv, technische Entwicklungen zurückdrehen zu wollen. Digitale Angebote sind da, also werden sie genutzt. Auch Filmklassiker schaut man sich eigentlich besser im Filmtheater an, hat aber kaum noch die Chance dazu – und muss daher auf DVD-, Blu-Ray- oder neuerdings 4K-Silberscheiben zurückgreifen. Der Unterschied zwischen solchen Speichermedien und Streamingportalen wie Netflix ist allerdings noch einmal eklatant. Netflix produziert ja Filme, hält die Kinoauswertung dieser Produktionen kurz (falls ein Kinostart unumgänglich ist: für Oscar-Nominierungen etwa) und bietet die Filme fortan nur noch auf der eigenen Plattform an. Man hätte zum Beispiel Noah Baumbachs tiefbewegende "Marriage Story" (mit Adam Driver und Scarlett Johansson) nach der Venedig-Premiere 2019 gerne wiedergesehen, im Kino (aus dem der Netflix-Film nach kürzester Zeit wieder verschwand) oder wenigstens auf Blu-Ray. Keine Chance.
Fataler noch wirkt sich der Einfluss des Nutzerverhaltens auf die Inhalte aus. Die Streamingdienste müssen gar nicht mehr warten, ob Filme nach aufwendigen Drehzeiten zu Superhits oder Flops geraten, dank der Algorithmen wissen sie es schon vorher "besser". Die Verwertungslogik bringt es dann mit sich, dass auf Experimente verzichtet wird und womöglich nur noch mittelprächtiger "Content" produziert wird.
Selbst Streaming-Gegner werden bei Netflix schwach
Kunst als Mehrheitsentscheidung? Vote for Art? Für die entmündigten Filmemacherinnen und -macher ist die Gemengelage einerseits eine Katastrophe, anderseits wird es immer schwieriger, sich dem Einfluss der mächtigen Streaminganbieter zu entziehen.
So zählt Martin Scorsese zwar zu den heftigsten Kritikern einer Branche, die bewegte Bilder lediglich als "Inhalte" generalisiere, ein Einheitsbegriff, "der für alle bewegten Bilder gleichermaßen genutzt wird: einen David-Lean-Film, ein Katzenvideo, einen Super-Bowl-Werbeclip, das Sequel zu einem Superheldenfilm, eine Serien-Episode", so Scorsese. Die Schizophrenie des zeitgenössischen Betriebs wird indes darin sichtbar, dass Scorsese seine Filme inzwischen selbst von Streamingdiensten bezuschussen lässt, "The Irishman" war eine Netflix-Produktion, Scorseses neues Projekt, das 200-Millionen-Dollar-Epos "Killers of the Flower Moon" wird von Apple finanziert.
Schwach geworden sind hinsichtlich Netflix aber nicht nur Scorsese, seine Kollegen Spike Lee ("Da 5 Bloods") oder David Fincher ("Mank"), sondern jüngst auch Steven Spielberg. Auch des ehemalige Hollywood-Wunderkind galt als scharfer Kritiker der Streamingdienste, nichtsdestotrotz haben er und seine Produktionsfirma Amblin Partners kürzlich einen Vertrag mit Netflix abgeschlossen, wobei sich auch Spielberg persönlich mit Regiearbeiten einbringen soll.
Die Verschmelzung von Kino mit anderen Medien
Steven Spielbergs fix und fertige Neuverfilmung des Musicals "West Side Story", eine Koproduktion von 20th Century Fox und Disney, wird jedenfalls definitiv im Kino laufen, pandemiebedingt mit einem Jahr Verspätung, nämlich im kommenden Dezember. Vorher, am 30. September, ist der neue "Bond" angesetzt. Daniel Craigs finales Abenteuer als 007 in "Keine Zeit zu sterben" wurde sogar um anderthalb Jahre verschoben statt ihn wie andere Blockbuster-Anwärter zu verstreamen.
Und jetzt im Juli? Kämpft "Godzilla vs. Kong" in einer Monsterschmonzette, die es so ähnlich schon mal in den 1970ern gab. Es heißt ja immer, dass für solche Reißer das Kino – mitsamt den Vorführpalästen – erfunden wurde. Außerdem startet mit "Monster Hunter" eine Videospiel-Adaption mit Milla Jovovich, ein Beispiel für die Verschmelzung von Kino mit anderen Medien (die im Fall der Videogames wohl vor 40 Jahren mit Spielbergs Indiana-Jones-Abenteuer "Jäger des verlorenene Schatzes" begonnen hat).
Die Unterscheidung zwischen "Großem Kino" (ergo: Ballerei, Action, Special Effects) und "Arthouse" (welches doch ruhig "intim" gestreamt oder in der Glotze betrachtet werden könne), ist natürlich grober Blödsinn. Kino war schon immer Spektakel und Spezielles hinter demselben Vorhang. Deshalb freuen wir uns auf den Oscar-Gewinner "Nomadland" und Dominik Grafs wundervolle Kästner-Adaption "Fabian oder Der Gang vor die Hunde"; Filme, die der Kritiker notgedrungen auf dem Notebook anschauen musste, die aber – verdammt! – ins Kino gehören.