Gastbeitrag

Ein Versuch, die Neue Nationalgalerie in einem anderen Licht zu sehen

Berlin ist stolz auf die sanierte Neue Nationalgalerie. Einige Aspekte des Baus von Mies van der Rohe wurden dabei jedoch kaum thematisiert. Ein Gastbeitrag von Künstler Aram Bartholl

Nach langjährigen Sanierungsarbeiten ist Berlins Museumsschmuckstück, die Neue Nationalgalerie, seit Ende August wieder für Publikum zugänglich. Vor und nach der Eröffnung wurde dieses ikonische Meisterwerk der modernen Architektur mit einer Vielzahl von Artikeln, Radio- und Fernsehbeiträgen wiederholt gelobt und gefeiert. Berlin und die Kunstwelt sind sehr stolz auf dieses Haus. Im Gegensatz dazu steht das kürzlich eröffnete Humboldt Forum mit all der Kritik um rückwärtsgewandte Architektur und eine schmerzhafte Diskussion über deutsche Kolonialgeschichte und Kunstraub. Ein neues Haus, über das man sich nicht freuen kann. Doch nun ist die gute alte Neue Nationalgalerie endlich wieder eröffnet und ohne problematische Geschichte in vollen Zügen moderner Klarheit zu genießen. Oder etwa nicht?

In einigen Artikeln und Berichten wird am Rande die Entstehungsgeschichte des Entwurfs von Mies van der Rohe kurz erwähnt. Ursprünglich war die Neue Nationalgalerie nämlich als Firmensitz für den Spirituosenhersteller Bacardi geplant worden, zu dessen Bau es aber nie kam. Die Moderatorin im "Deutschlandfunk" kichert kurz über dieses Detail, es werden aber sogleich der offene Grundriss und die unglaubliche Transparenz des Hauses beschworen. Doch was hat es mit dieser Geschichte auf sich? Wie kann ein Firmensitz ein Museum werden, und warum konnte dieser damals nicht gebaut werden? Es lohnt sich hier einen genaueren Blick auf die Vorgeschichte des Hauses zu werfen, bevor es die Neue Nationalgalerie wurde.

Nachdem Mies van der Rohe als ehemaliger Direktor des verbotenen Bauhaus im Nazideutschland der 1930er-Jahre trotz großem Bemühen keine Aufträge mehr erhielt, emigrierte er 1938 in die USA, um dort eine Professur in Chicago anzunehmen. Über sein Verhältnis zum Nationalsozialismus hat es kürzlich wieder Diskussionen gegeben. Jahrelang hiess es Mies "unpolitisch" gewesen. Seine Vorliebe für Glas und Stahl kam der Hightech-zugewandten Baukultur in den USA sehr entgegen. Innerhalb weniger Jahre stieg er zu einem der bekanntesten Architekten im Land auf. Es entstanden all die ikonischen Häuser, die heute zu den Klassikern der modernen Architektur gehören.

Eines davon ist das berühmte Seagram Building in New York, welches Mies für den gleichnamigen Spirituosen-Konzern als Firmensitz 1958 fertigstellt. Das Bürohochhaus, ausgeführt in edlen Materialien, ist ein voller Erfolg und wird zum werbeträchtigen Aushängeschild für die kanadische Schnapsfirma. Die Konkurrenz lässt nicht lange auf sich warten. Bacardi, ebenfalls erfolgreicher Spirituosenhersteller, möchte sich auch gern mit einem repräsentativen Haus des Stararchitekten schmücken. Aber nicht in New York – der angestammte Firmensitz dieses Familienunternehmens befindet sich auf Kuba.

Ein Verwaltungsgebäude für Bacardi

Schon 1957 reist Mies nach Havanna, wo er im Beisein des Bacardi-Direktors erste Ideen für ein Verwaltungsgebäude auf eine Cocktailserviette skizziert. Die spätere Neuen Nationalgalerie lässt sich schon hier eindeutig in dieser Zeichnung erkennen. Er zeichnet sogar das Bacardi-Logo in der Mitte der Ansicht. Fun Fact: Dabei verschreibt er sich, der Firmennamen "Barcadi" ist falsch buchstabiert. Die berühmte Serviette mit der ersten Zeichnung des Hauses befindet sich heute in der Sammlung des MoMA.

Zwei Jahre später, im Januar 1959, präsentiert er dann den fertigen Entwurf des Hauses, eine etwas kleinere Version der heutigen Neuen Nationalgalerie, im Hilton Hotel Havanna. Doch schon im selben Monat ändert sich die politische Situation im krisengeschüttelten Kuba grundlegend. Die kommunistische Revolution, angeführt durch Fidel Castro, verjagt den gehassten Präsidenten Batista und macht Schluss mit der Militärdiktatur. Neben den Großgrundbesitzern werden auch alle größeren Firmen komplett enteignet. In der Folge flieht das Familienunternehmen Bacardi ins Ausland, und die Realisierung des neuen Verwaltungshauses ist von einem auf den anderen Tag geplatzt.

Es ist nun nicht unüblich in der Architektur oder auch in der Kunst, dass, wenn ein Projekt aus welchen Gründen auch immer nicht funktioniert, es eventuell später an anderer Stelle realisiert wird. Das heißt nicht, dass es deswegen in der Qualität leidet, vielleicht wird es sogar besser. Im Falle der Neuen Nationalgalerie ist es aber durchaus interessant, sich den Kontext der ersten Planung dieses Hauses etwas genauer anzuschauen. Sowohl die Funktion des Hauses als auch der Ort weichen stark von der späteren Realisierung ab. Hierfür bietet sich ein Blick auf die Geschichte Kubas an.

Wie in weiten Teilen Lateinamerikas ist auch die Geschichte Kubas von langjähriger kolonialer Ausbeutung geprägt. Kuba war über Jahrhunderte eine Kolonie der spanischen Krone, die mit dem massiven Anbau von Zuckerrohr ein Vermögen machte. Das Geschäft mit dem "weißen Gold" war äußerst lukrativ, aber bedeutete brutale Ausbeutung für viele Generationen von versklavten Menschen, die unter unmenschlichen Bedingungen zur Arbeit auf den Zuckerrohrplantagen der spanischen Kolonialisten gezwungen wurden.

Kuba war für lange Zeit der größte Zuckerproduzent der Welt und deckte bis zu einem Drittel des ständig wachsenden Zuckerbedarfs Europas ab. Häufig wurde auch das Zwischenprodukt, die Zuckerrohr-Melasse in Destillerien direkt zu Rum gebrannt, welcher in Afrika wiederum als Zahlungsmittel im Menschenhandel eingesetzt wurde. Gegen Ende der Kolonialzeit beginnt dann die Geschichte des Traditionsunternehmen Bacardi auf Kuba.

Kubas Zuckerrohrproduktion und die Neue Nationalgalerie

Die Firma Bacardi wurde 1861 von Don Facundo Bacardí Massó, der von Spanien nach Kuba eingewandert war, gegründet. Durch neue Verfahren gelang es ihm, den "rauen" Rum, der als markantes, aber sehr haltbares Getränk der Seeleute bekannt war, in einen hochwertigeren weißen (klaren) Rum zu destillieren. Kuba mit der Jahrhunderte alten Geschichte von Zuckerproduktion war natürlich der optimale Ort für Don Facundo, eine auf Rum spezialisierte Schnapsbrennerei aufzubauen. Zuckermelasse als Ausgangsbasis gab es in großen Mengen zu sicherlich sehr günstigen Preisen. Der Menschenhandel wurde auf Kuba erst 1886 vollständig verboten, 20 Jahre nach den USA und zwei Jahre vor Brasilien. Die restliche Geschichte Bacardis ist eine einzige Erfolgsstory. Insbesondere in Zeiten der Prohibition, dem Alkoholverbot in den USA (1920-33) wuchs das Unternehmen immens, genau wie der Konkurrent Seagram aus Kanada.

Doch was hat das alles mit der Neuen Nationalgalerie zu tun? Was macht sie so besonders? Natürlich, der offene Grundriss und die volle Transparenz der Glashalle sind faszinierend. Auf nur acht Stützen gelagert schwebt dieses unglaubliche Dach aus 1200 Tonnen Stahl in 8,4 Meter Höhe und überspannt vollkommen frei eine riesige Fläche. Dabei fällt auf, dass die darunterliegende Glasfassade stark eingerückt ist. Das Dach hat rund herum einen Überstand von ganzen sieben Metern. Und hier wird es interessant. Natürlich hat Mies auch schon in anderen Häusern mit überstehenden Dächern gearbeitet. Der Überstand betont das Schweben der Dachplatte, quasi als würde die Glasfassade darunter gar nicht existieren. Es gibt aber noch einen anderen wichtigen Grund für diesen Dachüberstand. Kuba liegt in der Karibik und hat tropisches Klima. Die Sonne scheint hier erbarmungslos, und Schatten ist ein sehr hohes Gut, gerade für ein voll verglastes Haus. Das auskragende Dach ist ganz klar für die klimatischen Bedingungen Kubas entworfen worden. Dies sagt auch der ehemalige Mitarbeiter aus dem Büro van der Rohes im folgenden Zitat:

"The intense tropical sun in Santiago prompted Mies and Summers to modify the familiar glass box form used in Crown Hall by designing the large roof that shaded the main volume. This broad overhanging roof would become one of the signature elements of the New National Gallery, and although Mies had designed large overhangs before, the distinctive form it took in the late work emerged in the Bacardi project and was inspired in part by Cuban vernacular architecture. Summers recalled the development of the Santiago scheme: "... we were sitting under this overhang which was quite interesting, it was probably twenty feet high, it had long sort of colonial-like columns [with] probably twenty feet ... between the column and the wall and we were sitting very comfortably on lounge chairs having a drink and I said to Mies, "this is kind of what we need to shelter the glass and to offer shadow and to keep the sun out of the inside. At least in the summertime." (Kathryn E. O'Rourke (2012) Mies and Bacardi)

Schinkel als Inspirationsquelle

Nun kann man sich sowieso fragen, wie die Neue Nationalgalerie denn als Verwaltungsgebäude hätte funktionieren sollen. Der Direktor Bacardis wünschte sich einen offenen Grundriss für ein trendiges Großraumbüro. Wie sinnvoll dafür diese riesige Glashalle gewesen wäre, lässt sich nur mutmaßen. Auch als Ausstellungsraum ist sie ja seit jeher eine Herausforderung (für die Calder-Ausstellung wurde der Blick natürlich erst einmal wieder mit einer großen weißen Wand versperrt). Es scheint, als spiele die Funktion des Hauses eine untergeordnete Rolle. Unter Architekturhistorikern ist unumstritten, dass sich Mies mit diesem ultramodernen Entwurf deutlich auf die Architektur antiker Tempel bezieht. Das Museumsuntergeschoss mit breiter Treppe fungiert als massiver Sockel. Obendrauf steht der erhabene Säulentempel aus Glas und Stahl.

Bei der Neuen Nationalgalerie habe er sogar eindeutig an das Alte Museum von Schinkel gedacht, sagt Dirk Lohan, der Enkel von Mies van der Rohe. Dass der ursprüngliche Entwurf für Kuba geplant war, spielt irgendwie wohl keine Rolle. So oder so ist die griechische Antike mit ihren strengen Regeln im Tempelbau seit jeher ein Thema bei den Architekten, natürlich auch für den Berliner Baumeister Schinkel. Gerne schmückten sich aber auch Plantagenbesitzer mit diesen traditionellen Attributen. Ein gutes Beispiel ist die "Oak Alley Plantation" Villa, erbaut 1837 in Louisiana, in den Südstaaten der USA. Sie ist auch komplett symmetrisch und die Säulen geben auch eine umlaufende schattige Veranda frei. Damals wie auch heute dient diese Referenz auf die Antike natürlich auch dazu, seine Überlegenheit und "Herrenmenschentum" zur Schau zu stellen.

Man könnte sogar meinen, dass der Entwurf für Bacardi eher eine sehr große Villa für einen Plantagenbesitzer als ein Bürohaus war. Der mit hohen Mauern umschlossene Skulpturengarten des Museums entspricht in dem Fall dem geschützt innen liegenden Garten eines herrschaftlichen Hauses auf Kuba.

Es lässt sich also folgendes zusammenfassen: Wenn Sie das nächste Mal die Neue Nationalgalerie betreten, achten Sie auf das weit auskragende Dach und rufen Sie sich die Vorgeschichte dieses Hauses in Erinnerung. Es fängt an mit einem deutschen Star-Architekten der Moderne, der das Bauhaus schließen musste, dann aber noch Mitglied der Reichskulturkammer wurde, bevor er in die USA emigrierte. Dort entwirft er einen Tempel für ein global agierendes Unternehmen im krisengeschüttelten Kuba.

Tropisches Klima in Berlin

Wie viele andere Firmen begründet dieses Unternehmen seinen Erfolg auf der langen und äußerst brutalen Kolonialgeschichte, mit der Europa die ganze Welt überzog. Die Insel ist von der Ausbeutungsgeschichte und einer Militärdiktatur geprägt. Mit der kubanischen Revolution ist der Bau verhindert, aber ein paar Jahre später wird die "Villa Bacardi" als Neue Nationalgalerie ins kalte Berlin gestellt.

Die Ironie der Geschichte? Die Neue Nationalgalerie steht genau an der Stelle, an der Hitler und sein Hof-Architekt Albert Speer das Haus des Fremdenverkehrs geplant hatten, als Teil der großen Nord-Süd-Achse des monumental angelegten Plans zur 1000-jährigen Reichshauptstadt.

Nun ja, aber in Berlin ist es ja gar nicht so kalt im Sommer, und Schatten braucht die Glasfassade auch. Und so trifft es sich, dass wenn in vielleicht nicht allzu ferner Zukunft auch hier tropisches Klima herrschen wird, dieses Haus mit quasi "Proxy-Kolonialgeschichte" schon an Ort und Stelle steht. Wenn Sie also dort im Schatten des 1200-Tonnen-Dachs stehen, denken Sie an die Zuckerrohrfelder Kubas. Das Zuckerrohr, das Christoph Kolumbus schon vor über 500 Jahren mit in die Karibik brachte.