Kuratorin Ekaterina Degot

"Putins Regime hat sich durch Sport, Klassik und Museen legitimiert"

Nach dem Krieg werden für Russland sicherlich noch dunklere Zeiten des Terrors kommen, prophezeit Ekaterina Degot. Die in Moskau geborene Intendantin des Kunstfestivals Steierischer Herbst rät dem Westen, sich schon jetzt darauf vorzubereiten - auch im Bereich von Kunst und Kultur

Seit Putin den Krieg gegen die Ukraine begonnen hat, sagen viele westliche Intellektuelle immer wieder, dass sie es hätten besser wissen müssen, dass sie diese brutale Eskalation vorhersehen hätten müssen. Hätte die westliche Kulturszene etwas tun können?

Der Westen hätte in erster Linie weniger abhängig von Russlands Öl und Gas sein müssen und sich auch finanziell weniger von Russland bezaubern lassen sollen. Das große Geld lässt westliche Institutionen und Politiker:innen manchmal alle ihre hohen Prinzipien vergessen, und das nicht nur im Falle Russlands. Zudem hätte der Westen, vor allem die Intellektuellen und die Kulturszene, der aktuellen russischen Ideologie kritischer gegenüberstehen müssen, wofür er sich auch kompetenter hätte erweisen müssen. Der Westen musste und muss aufhören, seine eigenen selbstkritischen dekolonialen Bestrebungen auf den Putinismus zu projizieren. Lange Zeit wurde Putin als Antiamerikanist unterstützt, der sich dem westlichen Projekt widersetzt. Das ist naiv, der progressive Westen muss sich seine Verbündeten klüger aussuchen. Die Idee "Eurasiens" war sehr verlockend für einige meiner westlichen Kolleg:innen, auch wenn ich immer wieder gesagt habe, dass dies ein Begriff aus der russischen Faschismustheorie ist. Der russische Faschismus wird unterschätzt, vor allem in Deutschland, und zwar aus offensichtlichen Gründen, denn die Deutschen neigen dazu, sich selbst als den Haupt- und vielleicht einzigen Schuldigen zu sehen. Aber der russische Faschismus ist eine sehr mächtige und gefährliche Ideologie, die ihre Wurzeln in der Philosophie der weißen antikommunistischen Emigranten der 1920er hat, und Putin hat sie seiner Elite seit den 2000ern buchstäblich aufgezwungen. All seine Generäle sind mit den Büchern von Iwan Iljin bewaffnet. Das sind Fakten, die im Westen kaum bekannt sind, wo Putin unter "sowjetischem" Blickwinkel betrachtet wird, positiv oder negativ je nach eigenem Standpunkt. Aber er ist ein Faschist mit tiefen Wurzeln im zaristischen, imperialen, antisemitischen, obskurantistischen Russland – das irgendwann von Stalin wiederbelebt wurde und seitdem fast unbemerkt gedeiht.

Hat die westliche Kulturszene Putins imperiale Politik "normalisiert", indem sie mit russischen Kultureinrichtungen zusammengearbeitet hat? Oder war es wichtig, den Dialog aufrechtzuerhalten?

Putins Regime hat sich international durch Sport, klassische Musik und ideologisch wichtige große Museen wie die Eremitage oder das Kreml-Museum legitimiert, im Inland auch durch große Filmproduktionen, Fernsehen und Popmusik. Die zeitgenössische bildende Kunst war in der Regel nicht Teil dieser nationalistischen und chauvinistischen Landschaft, so dass es unbedenklich schien, mit ihr zusammenzuarbeiten. Man ist immer davon ausgegangen, dass Einrichtungen der zeitgenössischen Kunst, vor allem private, da sie weniger zensiert wurden (das Garage Museum oder die V-A-C Stiftung), versteckte Agenten des Widerstands, des freien Denkens und der Demokratie sind. In der Tat wurde dort wichtige Aufklärungsarbeit geleistet: feministische Gruppen, junge linke Denker:innen oder LGBT-Aktivist:innen trafen sich und diskutieren. Bei der Zusammenarbeit mit dem Westen ging es hier weniger um einen Dialog als vielmehr um eine Art humanitäre Hilfe – Hilfe für die russische Opposition, auch wenn man das nicht offen sagen konnte, da es die betroffenen Russ:innen zu "ausländischen Agenten" gemacht hätte. Nun haben diese privaten Museen ihre Pforten geschlossen (im Gegensatz zu den großen staatlichen Museen, die so tun, als ginge alles seinen gewohnten Gang), und einige ihrer jungen Kuratorinnen und Kuratoren haben das Land verlassen, weil sie entweder um ihre Freiheit fürchten oder sich zutiefst schämen, in dem Land zu leben, das diesen blutigen Krieg begonnen hat.

Viele westliche Institutionen haben das Geld der Oligarchen gerne angenommen. Sollten sie sich jetzt schuldig fühlen?

Zunächst einmal muss ich einen typischen Irrtum korrigieren: Das heutige Russland ist nicht das Russland der 1990er, und die Oligarchen haben dort keine politische Macht mehr, weshalb Sanktionen gegen sie eher symbolischen Wert haben. Seit Mitte der 2000er wird Russland von sogenannten Silowiki regiert, starken Männern - Polizei, Geheimdienste, Militär - die in der Regel keine Verbindung zu kulturellen Einrichtungen haben. Abgesehen davon muss man das Geld der russischen Oligarchen nicht nur politisch, sondern auch ökologisch beanstanden: Es handelt sich sehr häufig um Geld aus der Extraktionswirtschaft. Der Westen ist im Allgemeinen nicht kritisch genug gegenüber Geldquellen, aber das hat sich mit der Sorge um das Klima und geschlechtsspezifische Gewalt begonnen zu ändern.

Wie gespalten ist die Kulturszene in Russland? Welche Zukunft sehen Sie für diejenigen, die mit Putins Politik nicht einverstanden sind?

Russland befindet sich mindestens seit Anfang der 2000er-Jahre in einem permanenten Bürgerkrieg. Jetzt betrachtet Putin diesen als buchstäblichen Krieg gegen den Westen, auch wenn die Sache viel komplexer ist, und verfolgt die "fünfte Kolonne" im eigenen Land. In Russland unterstützt etwa ein Drittel der Bevölkerung das Regime nicht, wovon ein Drittel aktiv protestiert, auch jetzt noch. Und ein Drittel unterstützt es, auch davon wiederum nur ein Drittel aktiv. Der Rest der Gesellschaft verhält sich gleichgültig. An dieser Aufteilung hat der Krieg in der Ukraine nichts geändert. Interessanterweise gibt es keine massive Mobilisierung für den Krieg – die Passiven bleiben passiv. Die große Mehrheit der bildenden Künstler:innen gehört zum erstem Drittel, zur Kategorie der "Landesverräter:innen" (laut Putin), der Kriegsgegner:innen, aber es gibt auch einige Kriegsbefürworter:innen, die dem "russischen Souveränitätsdenken" anhängen. Diejenigen, die gegen den Krieg sind, vor allem junge Leute, versuchen jetzt aus dem Land zu fliehen, wo und wann immer es möglich ist, schnell und ohne Visum. Was mit dieser "x-ten" Welle der russischen Emigration geschieht, ist noch nicht klar. Wir sprechen hier von einer halben Million Menschen insgesamt, natürlich sind nicht alle davon Künstler:innen. Diejenigen, die bleiben, sind zutiefst deprimiert, oder sie werden vom aktiven Protest, der jetzt sehr riskant ist, mit Leben erfüllt. Die tiefgreifende Analyse der Verantwortung und Mitschuld der russischen Intellektuellen beginnt gerade.

Sollen westliche jetzt russische Institutionen boykottieren? Welche Wirkung hätte ein totaler Boykott?

Die wirtschaftliche Isolation soll das Regime letzten Endes zerstören – eine Hoffnung, die viele Russ:innen teilen, auch wenn nicht klar ist, ob das funktionieren wird. Die kulturelle Isolation innerhalb des Landes – also dass die Russ:innen weniger oder keinen Zugang zu fremder Kultur, fremden Sprachen und Informationsquellen haben – ist Putins größtes Ziel, sie wird ihm sehr helfen. Ein Boykott in dem Sinne, dass man weniger russische Kultur im Ausland zeigt, ist dagegen sinnvoll. In der Tat muss man die gefährliche putinistische Selbstpropaganda, "Russia Today" und ähnliche Dinge, stoppen, und es wäre beschämend, einen russischen Pavillon in Venedig zu haben. Aber den musste man nicht boykottieren – das Künstlerduo und der Kurator haben ihre Teilnahme selbst zurückzogen. Russische Akademiker:innen wissen, dass sie jetzt seltener eingeladen werden, aber das ist das geringste ihrer Probleme angesichts der tiefen Schuldgefühle, der Scham und der Verzweiflung, die sie empfinden, und der Risiken, die sie eingehen, wenn sie offen über den Krieg schreiben. Meiner Meinung nach muss der Westen nachdenken, informiert sein und differenzieren. Es bereitet Kopfzerbrechen, zu prüfen, wen man einlädt und wen nicht, aber es ist notwendig, und die Positionen sind durch die sozialen Medien jetzt transparent. Jede Institution im Westen braucht jetzt eine:n spezielle:n "Russlandberater:in", um zu prüfen, wem man die Hand schütteln kann und wem nicht. Im Russischen gibt es ein spezielles Wort dafür, das jetzt sehr geläufig ist. Politisch feinfühlige russische Intellektuelle führen diese "Überprüfung" potenzieller Partner:innen, Sponsor:innen und Chef:innen schon seit Jahren durch. Aber es gibt auch Stimmen, die dazu aufrufen, alles Russische zu streichen. Ich weiß, dass der BDS-Boykott in Deutschland umstritten ist, er hat ein klares Ziel: Er richtet sich gegen israelische Staatsgelder, aber nicht gegen einzelne Künstler:innen mit israelischem Pass oder israelischer Abstammung. Bei den Russland-Boykotten, die jetzt vorgeschlagen werden, geht es oft nicht um russische Institutionen oder den russischen Staat, sondern um Blut, was mein antirassistisches Ich erschaudern lässt: Es geht gegen alle russischen Autor:innen oder Künstler:innen, einschließlich derer, die schon lange tot sind, oder derer, die schon lange im Ausland leben und nicht einmal mehr einen russischen Pass haben. Das ist emotional verständlich, aber dieser Ansatz nährt direkt Putins Narrativ einer "Russophobie", eines Kriegs des Westens gegen alle Russ:innen. So wächst die Hydra des russischen toxischen Ressentiments nur weiter.

Was würden Sie also raten?

Aktuell, während des Krieges, würde ich dazu raten, auf jegliche Zusammenarbeit mit russischen Institutionen zu verzichten. Ein Rückzug ist kein Boykott, es sei denn, man ist so berühmt wie Madonna. Es ist eine stille Wahrung des eigenen Rufs, eine sehr weise und ehrliche Geste meiner Ansicht nach. Nach dem Krieg werden für Russland sicherlich noch dunklere Zeiten des Terrors kommen, und man muss bereits jetzt eine Strategie für diese Zeiten der tiefen Isolation haben. Sie kann zum Beispiel darin bestehen, Dissident:innen zu unterstützten oder im passiven Teil der Bevölkerung Informationen über Kurzwellen zu verbreiten. Man muss sich vorbereiten.

Die ukrainischen Schriftsteller:innen und Kurator:innen Oleksandr Vynogradov und Lisa Korneichuk haben argumentiert, dass "die internationale Gemeinschaft endlich das moralische Problem erkennen muss, während der aktuellen Situation in der Ukraine Russ:innen, egal, wie fortschrittlich sie sind, ins Rampenlicht zu rücken. Jede Unterstützung, die man der russischen Kultur im Moment zukommen lässt, ist eine Unterstützung, die man den Ukrainern wegnimmt." Wie würden Sie das kommentieren?

Dieser Standpunkt ist verständlich, auch wenn ich mich an den Slogan der polnischen Unabhängigkeitsbewegung vom zaristischen Russland von 1831 halte: "Für eure und unsere Freiheit." Das hat ein polnischer Revolutionär gesagt, der seine Unterstützung für den Aufstand der Dekabristen in Sankt Petersburg ausgedrückt hat. Jetzt sage ich dies, verneige mich vor dem Heldentum der Ukrainer:innen und hoffe, dass wir das Monster des Putinismus gemeinsam bekämpfen können. Die seltenen russischen Stimmen, die die russische Kolonialpolitik der Vergangenheit und Gegenwart enthüllen, sollten gehört werden. Wenn sie zum Schweigen gebracht werden, spielt das Putin in die Hände, der das Land als monolithisches ideologisches Gebilde seiner Anhänger:innen sehen will. Das ist es nicht, war es nie und sollte es nicht werden.